Die Rosenknospe - Edmund Dorer

„Warst Du verirrt? Wie lange
Hast Du im Wald gesäumt?
Es glühen Deine Wangen,
Als hättest Du geträumt.“

Die Mutter spricht's zum Kinde,
Das lächelt hold sie an:
„Ein engelsgleicher Knabe
War heute mein Gespan.“

„Sein goldnes Haar umschlinget
Ein schneeger Lilienkranz;
Sein Blick und Auge glänzen
Wie heller Sternenglanz.“

„Er hat mir schöne Märchen
Voll tiefen Sinns vertraut:
Er hat mit sel'gem Auge
Mir in das Herz geschaut.“

„Und eine Rosenknospe
Gab er zum Abschied mir
Und sprach: Blüht diese Blume,
Bin wieder ich bei Dir!“

„Will wieder mit Dir spielen,
Wann neu die Sonne lacht;
Bald bricht der Knospen Hülle,
Die Rose, sie erwacht.“

Die Mutter birgt am Busen
Das Kind und eilt in's Tal;
Es lächelt freudig hoffend;
Sie weint in Ahnungsqual.

Da öffnet sich die Knospe,
Die Blume glänzt und glüht;
Doch welkt und stirbt ein Leben,
Wie sie am schönsten blüht.

Der Tau der Muttertränen
Fällt auf der Rose Glut
Und auf das Kind, das bleiche,
Das tot im Arm ihr ruht.

Wohl ging es hin zu spielen,
Wo neu die Sonne lacht;
Die Knospe brach die Hülle,
Die Rose ist erwacht.