Die Norne - Luise von Plönnies

"Schöne Jungfrau", sang die Norne,
"Hüte dich vor'm Ocean,
Alle Wogen schaumumflogen
Sind nur Gräber, denk daran!"

"Meine Zukunft strahlt im Westen,
Wie ein Purpur wallt die Flut,
Wie ein weicher, faltenreicher,
Drauf als Kron' die Sonne ruht."

Jubelruf im hohen Schlosse,
An dem Strande Jubellaut,
Denn auf schnellen Meereswellen
Naht das Schiff der Königsbraut.

Weiche Lüfte bläh'n die Segel,
England's Fahne tanzt im Wind,
Sanft gefächelt steht und lächelt
Träumerisch das Königskind.

Doch vor Abend ist vom Sturme
Rettungslos das Schiff bedroht,
Meeresweiten deckt mit breiten
Schwarzen Flügeln rings der Tod.

Ihre zarten Hände ringend,
Schaut sie in den Wogenschaum:
"Kaum begonnen, schon zerronnen
Du, mein süßer Liebestraum?"

"Ach, wo find ich einen Boten,
Eine Woge, einen Strahl,
Um den Süßen mir zu grüßen,
Ach viel hunderttausendmal!

So viel mal als Sternlein glühen
Hoch am blauen Himmelszelt,
Als da glühen, als da blühen
Röslein tief im grünen Feld."

Da zu jähen Finsternissen
Tat sich gähnend auf der Schlund,
Und die wilden Wogen rissen
Sie hinunter in den Grund.

Hoch vom Fels der junge König
In die weißen Strudel schaut:
"Noch zur Stunde, keine Kunde
Von der heißersehnten Braut?"

Sieh da treibt die schöne Tote
In dem wilden Flutendrang,
Und die Welle singet helle,
Was die Braut im Tode sang:

"Ach, wo find' ich einen Boten,
Eine Woge, einen Strahl,
Um den Süßen mir zu grüßen,
Ach viel hunderttausendmal."

Fern verhallt das Lied der Norne
Überm stillen Ocean:
"Alle Wogen schaumumflogen
Sind nur Gräber, denk daran!"