An Gott - Caroline Rudolphi

Im Mai 1775

Wenn ich deine Schöpfung seh',
Voll Bewund'rung vor dir steh',
Gott, wie wird mein Geist entzückt!
Gott, wie fühl' ich mich beglückt!

Wenn der junge Morgenstrahl,
Nun erwachend überall,
Deiner Güte Herold wird,
Und die Sonn' herausgeführt

Ihrem Zelte nun entsteigt,
Und das Schattenheer entweicht,
Und der Tau die Erde kühlt,
Und dein Leben alles fühlt;

Wenn die Mittagsglut uns drückt,
Dann der Westhauch uns erquickt,
Und die balsamreiche Luft
Lieblich zu den Schatten ruft;

Wenn in ihrem Schmuck die Nacht
Meine Seele staunen macht;
Wenn sie in der Welten Meer
Sich verliert; wenn um sie her

Alles, alles Wunder wird,
Ihr Bewußtsein dunkel wird;
Dann dein Lichtstrahl sie umfließt,
Ihr Bewußtsein Himmel ist;

Wie verkündigt dann die Welt
Ihren Schöpfer! Dann erhellt
Deiner Gottheit Schimmer sie!
Dann war Eden schöner nie.

Großer Vater der Natur!
Ist dies Leben Prüfung nur,
Ach wer nennt die Seligkeit
Deines Himmels Seligkeit!

Heilig, Vater, laß mich sein,
Mache meine Seele rein.
Dir ein Opfer werde sie
Deines Himmels würdig hie.